Wenn Menschen fliehen müssen

Krieg in der Ukraine und anderswo

Grenzen finden häufig in den Köpfen statt © Choat/adobestock.com

Natürlich muss ich nicht auch noch sagen, wie schrecklich das ist, was am frühen Morgen des 24.02.2022 in der Ukraine begann. Kriegshandlungen sind immer unerträglich.

Am Tag des Angriffs war ich so schockiert, dass mir stundenlang die Tränen herunter liefen, einfach, aus Angst vor einem ausgeweitetem Krieg.

Ich gehöre zu der Nachkriegsgeneration des 2. Weltkrieges, und bin mit Geschichten aus dem Krieg aufgewachsen. Ich war jung erwachsen, als der kalte Krieg seinen Höhepunkt erreichte. Als Jugendliche trieb uns die Angst vor einem Nuklearkrieg um, da damals ein Wettrüsten sondergleichen zwischen der USA und der Sowjetunion stattfand.

Das beides war mehr als abschreckend.

Erzählungen vom Krieg

Mein Vater erzählte von seinen geplatzten Träumen, davon, dass er ein Jahr intensiv spanisch lernte, weil die Bank, bei der er zu diesem Zeitpunkt beschäftigt war, ihn nach Südamerika entsenden wollte. Eine einmalige Chance in einer Zeit, als die Welt noch nicht so global war, wie heutzutage, und reisen in dieser Größenordnung eher selten stattfanden.

Stattdessen musste er relativ unvorbereitet als junger Mann in einen Krieg ziehen, der nicht sein Krieg war. Südamerika lernte er nie kennen, den Krieg um so mehr.

Im 2. Weltkrieg gab es keine sichere Zuflucht, man musste emigrieren                  © enterlinedesign/stock.adobe.com

Mein Vater erzählte ausführlich von seiner 3 Jahre währenden Kriegsgefangenschaft in Frankreich. Von der unfassbaren Grausamkeit, der eisigen Kälte, dem dauerhaften Hunger, der unsagbaren Angst.

Eingepfercht, wie Vieh, ohne Dach über dem Kopf, mussten die Männer auch bei Winterskälte hungrig und durstig ausharren. Glück im Unglück hatte, wer einen dicken Soldatenmantel besaß, oder Eigentümer einer sogenannten Gummihaut, einem Regenmantel ähnlichem Gebilde war, und sich darunter ein wenig vor Regen schützen konnte.

Er erzählte von Erdlöchern, nie trocknendem Schlamm, von Krankheiten, und getöteten oder an Schwäche gestorbenen Kameraden. Von unmenschlichem Leid und kaum ertragbarer Härte gegen die von Hitler entsandten Soldaten.

Ich war erst sieben oder acht, und der 2. Weltkrieg erst 20 Jahre vorbei. Die Erinnerung an die Gräuel war noch über alle Maßen präsent, und ich hörte den Geschichten meiner Eltern zu, die sie meinen deutlich älteren Brüdern am Essenstisch erzählten.

Eingepfercht, wie Tiere und der Freiheit beraubt    ©Budimir-Jevtic/stock.adobe.com

Meine Mutter, zu Beginn des Krieges erst 17jährig, erzählte von den vielen Nächten im Luftschutzbunker, der unendlichen Angst, der Zerstörung rund herum und auch der langen Zeit des Hungerns. Sie erzählte von der Flucht aufs Land, um bei Bauern, die nur wenig mehr hatten, Essensreste abzusahnen und einfach nur zu überleben.

Sie erzählte auch von den langen Fahrten aus dem Rheinland bis hoch in den Norden, der Zug fuhr bis nach Lübeck. Die jungen Mädchen mussten dazu auf fahrende Züge springen, und stundenlang bei Wind und Wetter auf den Dächern ausharren, um wenigstens ein wenig Nahrung für die Familien heimzubringen. Die Gefahr für Leib und Leben war nach ihrer Aussage weniger schlimm, als der Hunger.

Freundliche Bauern überließen ihnen ein ums andere Mal Kartoffelschalen, aus denen mit Wasser „Kartoffelsuppe“ gekocht wurde, damit das Wasser wenigstens ein bisschen nach etwas schmeckte.

Das Wort Schwarzmarkt wurde von ihr zwar nicht in den Mund genommen, aber ich vermute, dass die aller letzten Habseligkeiten gegen Essbares eingetauscht wurden.

Nicht alle hießen die Flüchtlinge willkommen        ©karepa/stock.adobe.com

Wenn es den Menschen mal richtig gut ging, gab es Schiebewurst. Das war ein Kanten Brot, mit einem kleinem Stück Wurst belegt. Bevor man abbiss, wurde die Wurst nach hinten verschoben, so dass man die Idee und den Geschmack von Wurst hatte, aber eigentlich nur trocken Brot aß.

Der Ausdruck „gute Butter“ verfolgte mich meine gesamte Kindheit lang. Wohl, weil es in Kriegszeiten einen derartigen Luxus nicht gab, und man oft genug mit Butterersatz vorlieb nehmen musste.

Meine Eltern, völlig traumatisiert, erzogen uns zwar unabsichtlich, aber dennoch pazifistisch. Will sagen, dass ihre Erzählungen Spuren auch in unseren Seelen hinterließen und wir frei wählen konnten, Waffen abzulehnen. Nie wieder Krieg, war künftig aus guten Gründen und verständlicherweise auch unsere Devise.

Ende des kalten Krieges

Das hatte zur Folge, dass meine beiden älteren Brüder den Kriegsdienst verweigerten, und ich mich von jung auf politisch engagierte. Ich wollte eine bessere Welt, und ich bekam sie*. Als die großen Kriegsnationen USA  und (damals noch) Sowjetunion endlich abrüsteten, fühlten wir uns sicher. Und wenn es Blitzkriege gab, waren diese immer weit weg, wie der Krieg von 1991, die Bodenoffensive der USA gegen den Irak.

Kriegshandlungen verletzen Kinder psychisch ©Roman-Bodnarchuk/stock.adobe.com

Seit 40 Jahren war Krieg gefühlt, weit weg und existierte nicht mehr in unseren Köpfen. Europa hatte sich verändert. In Berührung kamen wir immer nur indirekt, z.B. durch Kriegsflüchtlinge.

Krieg findet nur woanders statt

Als 2015 unsere damalige Bundeskanzlerin Frau Merkel öffentlich sagte: „Wir schaffen das.“, war nur ein (Gott sei Dank großer) Teil unserer Bevölkerung bereit, die Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, die vor unhaltbaren Zuständen in ihrem Land fliehen mussten.

Es folgte leider eine unmenschliche Reaktion an vielen europäischen Grenzen: Die Grenzen wurden vor der Not der meist syrischen Flüchtlinge verschlossen, und zusätzliche Grenzzäune wurden errichtet. Die Menschen, die vor Krieg und größter Not flohen, wurden in Lager zusammen gepfercht, in denen es oft am Notwendigsten fehlte, was mich wiederum an die Kriegsgefangenschaft meines Vaters erinnert.

Dieses Mal ist es anders. Wieder fliehen Massen von Menschen. Versuchen der Angst und dem Kriegsterror zu entkommen, den Russland über die ukrainische Bevölkerung gebracht hat, und die ganze Welt handelt, und lindert die Not.

Wir teilen eine weitere globale Angst                   ©motortion/stock.adobe.com

Hilfe in der Not

Die Herzen gehen auf, und Menschen helfen Menschen. Menschen auf der Flucht, die aus Angst vor dem Krieg ihr gesamtes Hab und Gut zurück lassen, um sich selbst und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Menschen, die nicht wissen, ob, und wann sie zurück kehren können.

Menschen, die fliehen müssen, weil ihr Land, die Ukraine, ungerechtfertigt angegriffen wird. Weil das Nachbarland Russland meint, mit militärischer Macht einmarschieren zu können.

Die Menschen haben Angst, Opfer dieses brutalen Angriffskrieges zu werden. Sie müssen fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen, und müssen dabei ihre Männer, Söhne, Väter, Brüder, Onkel usw. zurück zu lassen, die ihr Land verteidigen müssen, in einem Krieg, der ebenfalls nicht ihrer ist.

Liebevolle Hilfe für die Flüchtlinge                            ©zinkevych/stock.adobe.com

Unsere Herzen sind offen

Natürlich öffnen wir unsere Herzen. Wir empfangen die Flüchtlinge herzlich und unterstützen sie nach Leibeskräften. Wir haben Verständnis für die Ungerechtigkeit, die ihnen zu teil wurde, und stehen an ihrer Seite.

Wir spenden, und sammeln alles, was den flüchtenden Menschen zugute kommen kann. Wir engagieren uns, obwohl wir selbst große Angst haben.

Angst davor, in einen 3. Weltkrieg hinein gezogen zu werden. Angst davor, dass es zu einem nuklearen Krieg kommen kann. Auch Angst vor den wirtschaftlichen Folgen, die wir zu tragen haben. Dennoch nehmen wir unseren Mut zusammen und heißen die Flüchtlinge bei uns willkommen. Zum ersten Mal seit mehreren Dutzenden von Jahren.

Interview von Jean Asselborn

In einem Interview sagte dazu Jean Asselborn, der Außenminister Luxemburgs folgenschwere Worte, die mich sehr anrührten. Er fragte, wo der Unterschied sei, zwischen Menschen, die aus dem Osten fliehen, und Menschen, die aus dem Süden fliehen? Man solle sein Herz öffnen, und ich interpretiere: Keinen Unterschied zwischen den Menschen aus der Ukraine und/oder aus Syrien machen. Hilfe benötigen diese Menschen auf der Flucht in gleichem Maße.

Wenn du magst, höre dir das ganze 6 Minuten 33 dauernde Interview an, auch wenn das Thema zu Beginn bereits von der Realität eingeholt wurde, oder aber ab Minute 5:45, um zu hören, was Herr Asselborn zu dem Flüchtlingsthema gesagt hat.

Mich hat es jedenfalls sehr beeindruckt, dass er in diesem Moment Menschlichkeit anmahnt, die für alle Flüchtlinge gilt. Ein Thema, wie ich finde, das gerade jetzt erwähnt gehört.

*Bezogen auf die Kriegsgefahr. Der Umweltschutz fing damals erst mühselig an, und lässt seit Jahrzehnten zu wünschen übrig.

l

l

l

l

In Memoriam
Hannelore & Kurt Bacmeister

The following two tabs change content below.
Hier bloggt für euch Almut Bacmeister-Boukherbata, Psychologische Beraterin & Paarberaterin in eigener Praxis seit 2001. In Hamburg lebend und praktizierend. Bietet seit 2010 auch mobile Beratung im Hamburger Umkreis an. Für alle, die nicht aus Ihrem Einzugsgebiet kommen, bietet sie ebenfalls Telefoncoaching an. Ihre Arbeitsweise ist kreativ und intuitiv, Klientenbezogen. Bekannt unter dem Begriff: "Individuelle Wegbegleitung". Sie schreibt Bücher und betätigt sich künstlerisch.

Neueste Artikel von Almut Bacmeister-Boukherbata (alle ansehen)