Gehen lassen … von Abschied & Trauer – Teil 2
Gefühle, die überborden – ein sehr persönlicher Beitrag
Ich bin traurig. Unsagbar traurig. Mein älterer Bruder ist von uns gegangen. Gerade die Person, die für mich und mein Leben wichtig war. Der Abschied fällt mir natürlich unendlich schwer. Das Loslassen ist auch für mich nun schwierig.
Meine Gefühle schwanken zwischen unendlicher Trauer, Tränen, tiefer Verzweiflung, und einer ruhigen Gelassenheit. Zwar erledige ich meine Aufgaben pflichtbewusst, wie immer, aber ich nehme mir auch die Zeit, die ich brauche. Ziehe mich zurück, wenn mir danach ist. Bitte meine Umwelt, mich in diesen Zeiten allein zu lassen. Wenn ich Kontakt brauche, dann sage ich auch das, und bitte um Gesellschaft.
Manchmal ist mir ganz plötzlich extrem nach Nähe. Dann kann ich es nicht aushalten, allein zu sein. Zu groß ist der Verlust.
Es gibt Phasen, in denen es mir richtig schlecht geht. Das sind die Momente, in denen Erinnerungen hochkommen, und sich das Bewusstsein durchsetzt, dass ich nie wieder mit ihm reden werde. Dass unsere täglichen Gespräche nie wieder stattfinden werden. Eine Erkenntnis, die mich im tiefsten Inneren trifft.
Für mich ging das alles viel zu schnell. Ich kam gerade aus dem Urlaub zurück, als ich hörte:“Er liegt im Sterben.“ Ganz plötzlich, ohne eine gravierende Vorerkrankung, die zum Tod führen würde. Im Urlaub hatten wir noch telefoniert… Nun war ganz plötzlich alles anders. Die Folge: Ein richtiger Abschied war mir nicht mehr möglich.
Meinem Bruder war es in diesem Moment unendlich wichtig, dass ich noch einmal zu ihm komme. Ihn besuche. Er konnte kaum noch sprechen. Ein Schlaganfall hatte sein Sprachzentrum gelähmt. Aber ich verstand ihn: „Hast du dir das SO vorgestellt?“
Ich weiß nicht, was er meinte. Grübele darüber nach. Ein Nachfragen war nicht möglich, da er schon zu schwach war. Meinte er vielleicht: „Hast du dir mein Ende so vorgestellt?“? Es war der letzte verständliche Satz von ihm, der mich nun in Gedanken begleitet. Ich drehe und wende ihn, und bekomme doch keine Antwort. Auch das bleibt am Ende offen.
Eigentlich begleiten mich diese Momente der Erinnerungen seit dem Augenblick, als ich erfuhr, dass mein Bruder sterben wird. Der schlimmste Augenblick war, als ich begriff, dass ich nicht, wie gewohnt mit ihm über das reden konnte, was gerade passiert. Dass es nun heißt, endgültig Abschied zu nehmen. Ohne Gespräche, ohne Erklärung, ohne die Möglichkeit, über unsere Gefühle dazu zu reden. Dabei war REDEN das, was uns beide ein Leben lang verband. Tolle philosophische Gespräche über das Leben, unsere Gesellschaft, uns Menschen und unsere Motivationen. Gespräche über uns selbst und unsere Gefühle.
Ich hätte so gern gewusst, ob er Angst hat. Angst vor dem Tod, oder ob er diesen sehnsüchtig erwartet. Ob er ihn als Erlösung ansieht. Was denkt ein Sterbender? Offene Fragen …
Erinnerungen kommen hoch, dazu, wie Papa, – wie Mama gestorben ist. Ich erinnere mich an Omas Beerdigung, Als mein Großer, damals 4 Jahre alt, plötzlich während der Trauerfeier lautstark sagte, was nur einem Kindermund entweichen kann, und zeigte, dass der Kleine noch nicht verstand… „Ich will Oma sehen!“ Es erinnerte mich sehr an den alten Witz: „Mama, Mama, ich will mit Opa spielen… Halt den Mund, der Sarg bleibt zu!“ Wenn es nicht so traurig wäre… ich könnte schallend lachen!
Meine Gefühle schlagen Purzelbäume. Ich reagiere zum Teil absurd, paradox. Bin durcheinander, und nicht ernst zu nehmen. Ich bin sooo allein. Meine Verzweiflung kennt keine Grenzen. HILFE!!!
Ich bin traurig. Unendlich traurig. Und wütend bin ich. Zum Zerplatzen wütend. Warum. Warum er? Warum so? Warum schon jetzt?
Obwohl ich es nicht bin, fühle ich mich total allein. Zurück gelassen. Todessehnsüchtig – aus dem Gefühl heraus, nur dann bei ihm sein zu können. Sehnsüchtig nach unseren Gesprächen. Ich falle in Erinnerungen und verliere mich darin. Ich könnte schreien! Manchmal tue ich das auch – vorzugsweise, wenn ich allein bin.
Ich war 9, mein Bruder doppelt so alt, gefühlt erwachsen (damals wurde man erst mit 21 volljährig.) Wir waren oft zusammen in seinem Zimmer. Er spielte mir Musik vor. Seine Musik. Musik, die er liebte. Dann stellte er mir Fragen. „Welche Instrumente hörst du?“ „Piano, Gitarre, Schlagzeug…“ Ich musste die Bandmitglieder verschiedener Bands aufzählen. „Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich …“. Wir unterhielten uns. Schon damals. Durch ihn entdeckte ich meine Liebe zum Blues, denn unsere Gespräche prägten mich.
Es tut sooo weh.
Dann versuche ich mich abzulenken, wenn ich glaube, es nicht aushalten zu können. Ich tue etwas, was mir gut tut. Etwas, wozu ich keine Konzentration benötige, um meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Oder ich schreibe über meine Gefühle, so, wie jetzt, für diesen Beitrag, gerade weil ich untröstlich bin.
Das Einzige, was mich ein wenig zu trösten vermag, sind positive Gedanken, wie: Es geht ihm jetzt bestimmt besser. Er ist jetzt im Licht. Irgendwann werden wir uns hoffentlich wieder sehen. Ich versuche los zu lassen. Ihn gehen zu lassen. Meine Gedanken begleiten ihn.
Zurück bleibt das Gefühl, dass ich diesen Verlust niemals verwinden werde.
Aber ich weiß: Es kommt der Tag, von dem an meine Schmerzen kleiner werden. Der Tag, an dem ich ihn gehen lassen kann. Dann, wenn meine Trauerarbeit beendet ist. Bis dahin, ziehe ich mich nicht komplett zurück. Kämpfe gegen depressive Verstimmungen, und versuche trotz allem am Leben teil zu nehmen. Ich schaue nach vorn und zu dem, was meinen Verlust ein klitzekleines bisschen kompensieren kann. Manchmal hilft ein Stück weit Verdrängung. Beiseite schieben. Aber nur, wenn es auch die Phasen der tiefen Trauer, die ich zum Abschied brauche, gibt.
Ich trauere. Aber nur jetzt. Später will ich wieder leben. Neue Kraft & Energie werden in meinem Inneren wachsen. Dann, ja dann wird es mir wieder gut gehen.
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